Erste Feststellung eines Missbrauchs relativer Marktmacht
Abstract
Die WEKO qualifiziert das Verhalten der französischen Verlagsgruppe Madrigall gegenüber der Schweizer Buchhändlerin Payot als Missbrauch relativer Marktmacht. Madrigall verweigerte Payot den Bezug von Büchern zu den in Frankreich üblichen Konditionen. Die WEKO verpflichtet Madrigall, Payot den Direktimport zu französischen Bedingungen zu ermöglichen. Es ist die erste Feststellung des Missbrauchs relativer Marktmacht seit der Einführung des Tatbestands im Jahr 2022.
Hintergrund
Das kartellrechtliche Missbrauchsverbot gilt seit dem 1. Januar 2022 auch für relativ marktmächtige Unternehmen: Nicht nur eine marktbeherrschende, sondern auch eine relativ marktmächtige Stellung darf nicht missbraucht werden. Ein Unternehmen ist relativ marktmächtig, wenn ein anderes Unternehmen keine ausreichenden und zumutbaren Ausweichmöglichkeiten hat und so von jenem Unternehmen abhängig ist. Relativ marktmächtige Unternehmen müssen etwa abhängige Unternehmen in Bezug auf Preise, Rabatte und sonstige Geschäftsbedingungen grundsätzlich gleich behandeln. Zudem darf die Möglichkeit für abhängige Unternehmen nicht eingeschränkt werden, Waren oder Leistungen im Ausland zu den dortigen Preisen und Bedingungen zu beziehen. Die Einführung der relativen Marktmacht dient der Bekämpfung der Hochpreisinsel Schweiz und geht auf die Fair-Preis-Initiative zurück (vgl. dazu das Homburger Bulletin vom 17. März 2021).
Nachdem die WEKO und in einem Zivilfall das Kantonsgericht Basel-Landschaft in früheren Entscheiden das Vorliegen bzw. den Missbrauch relativer Marktmacht verneinten, stellte die WEKO nun erstmals den Missbrauch einer relativ marktmächtigen Stellung fest und ordnete Massnahmen an.
Missbrauch relativer Marktmacht bei französischsprachigen Büchern
Vertrieb von französischsprachigen Büchern in Frankreich und der Schweiz
Die Vermarktung französischsprachiger Bücher erfolgt durch Verlagshäuser. Buchhändler auf Stufe Detailhandel beziehen die Bücher grundsätzlich direkt bei den Verlagshäusern. Für kleinere Buchhändler und zur Deckung von Sortimentslücken existieren in Frankreich wenige regionale Grossisten.
In Frankreich sind Verlage wie Madrigall gesetzlich dazu verpflichtet, feste Endkundenpreise festzulegen (Buchpreisbindung), auf deren Basis sie den Buchhändlern Rabatte gewähren.
Schweizer Buchhändler unterliegen seit 2007 keiner solchen Buchpreisbindung mehr und legen ihre Endkundenpreise selbst fest. Für ihre Einkaufspreise in der Schweiz sind jedoch die in Frankreich festgelegten Endkundenpreise massgebend, die um einen Zuschlag (z.B. Zollgebühren und Wechselkurs) angepasst und in empfohlene Schweizer Endkundenpreise umgerechnet werden. Von diesen Preisen erhalten Schweizer Buchhändler von den Verlagshäusern individuelle Rabatte, die den endgültigen Einkaufspreis bestimmen.
Schweizer Buchhändler haben grundsätzlich die Möglichkeit, Bücher direkt in Frankreich zu beziehen und eigenständig in die Schweiz zu importieren, wie es die Schweizer Buchhändlerin Payot beabsichtigt.
Marktmacht von Madrigall
Die WEKO prüft anhand der folgenden Kriterien, ob ein Unternehmen relativ marktmächtig ist:
- Abhängigkeit: Hat das betroffene Unternehmen ausreichende und zumutbare Ausweichmöglichkeiten? Diese Frage prüft die WEKO in drei Schritten:
- Ermittlung der Ausweichmöglichkeiten
- Feststellung der allfälligen Folgen des Ausweichens
- Beurteilung der Zumutbarkeit der Folgen
- Mangelnde Gegenmacht des abhängigen Unternehmens: Besteht zwischen den Unternehmen in Bezug auf das fragliche Geschäft eine ungleiche Machtverteilung?
- Grobes Selbstverschulden: Ist die Abhängigkeit auf eigene Fehler des abhängigen Unternehmens zurückzuführen?
Madrigall ist eine der grössten Verlagsgruppen Frankreichs und umfasst rund 15 Verlagshäuser. Die WEKO kommt zum Schluss, dass Payot als Buchhändlerin von Madrigall abhängig ist, da für Payot keine ausreichenden und zumutbaren Ausweichmöglichkeiten bestehen. Weder Grossisten in Frankreich und der Schweiz noch der Graumarkt können Payot mit der benötigten Menge an Büchern unter akzeptablen Bedingungen versorgen. Ein vollständiger Verzicht auf Madrigall-Bücher würde zudem erhebliche Umsatzeinbussen und eine deutlich geringere Attraktivität von Payot als generalistische Buchhändlerin zur Folge haben, da Madrigall über einen sehr renommierten Katalog verfügt.
In Bezug auf die Frage der Gegenmacht geht die WEKO davon aus, dass ein klares Ungleichgewicht der Nachteile besteht, die den beiden Unternehmen bei einer Auflösung der Lieferbeziehung entstehen würden. Während Madrigall zahlreiche Vertriebsmöglichkeiten in der Westschweiz hat, ist Payot vollständig auf Madrigall angewiesen. Die Frage nach dem groben Selbstverschulden erübrigte sich, da generalistische Buchhändlerinnen wie Payot faktisch dazu gezwungen sind, die Bücher von Madrigall anzubieten. Zudem ist der Bezug dieser Bücher grundsätzlich nur über das (exklusive) Vertriebssystem von Madrigall möglich. Das Verlagshaus Madrigall ist daher gegenüber der Westschweizer Buchhändlerin Payot relativ marktmächtig.
Missbrauch
Die Stellung als relativ marktmächtiges Unternehmen ist nicht verboten. Kartellrechtswidrig ist erst der Missbrauch der relativen Marktmacht.
Gemäss WEKO besteht der Missbrauch der relativen Marktmacht vorliegend darin, dass Madrigall von Payot deutlich höhere Einkaufspreise verlangt als von französischen Buchhändlerinnen. Madrigall versuchte, die höheren Einkaufspreise für Payot mit Mehrkosten für die Direktbelieferung in die Schweiz zu rechtfertigen. Nach Ansicht der WEKO kann Madrigall jedoch nur für einen geringen Teil dieser Mehrkosten nachweisen, dass diese allein deshalb entstehen, weil Payot in der Schweiz und nicht in Frankreich tätig ist. Es handelt sich dabei um höhere Arbeitskosten in der Schweiz sowie Schäden, die durch das Entfernen der Etiketten vor der Rückgabe der Bücher entstehen. Die anderen geltend gemachten Kosten (z.B. Umstellungskosten) rechtfertigen gemäss WEKO keine dauerhafte Erhöhung der Einkaufspreise. Es liegt daher ein Missbrauch der relativ marktmächtigen Stellung von Madrigall vor.
Massnahmen der WEKO
Die WEKO verpflichtet Madrigall, Payot bei einer Direktbelieferung aus Frankreich grundsätzlich die gleichen Konditionen anzubieten, die auch französischen Buchhändlerinnen gewährt werden. Madrigall hat jedoch die Möglichkeit, die Einkaufspreise gestützt auf nachgewiesene Mehrkosten zu erhöhen oder den Rabatt entsprechend anzupassen.
Sollte Madrigall gegen die verfügten Massnahmen verstossen, kann die WEKO eine neue Untersuchung eröffnen und dabei allenfalls Sanktionen aussprechen. Der eigentliche Missbrauch der relativen Markmacht hat im Gegensatz zum Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung jedoch keine direkte Sanktion zur Folge.
Bisherige Entscheide betreffend relative Marktmacht
Einstellungsverfügung der WEKO vom 24. Juni 2024 i.S. Fresenius Kabi
Am 24. Juni 2024 stellte die WEKO die Untersuchung betreffend das international tätige Pharmaunternehmen Fresenius Kabi ein. Gegenstand war der Vorwurf des Missbrauchs der relativen Marktmacht, indem Fresenius Kabi gegenüber der Galexis AG den Bezug von Produkten (Trink- und Sondennahrung) zu günstigeren Konditionen aus dem Ausland behindert oder verweigert hatte.
Die WEKO verneinte das Vorliegen einer relativ marktmächtigen Stellung aufgrund fehlender Abhängigkeit. Demnach hatte die Galexis AG ausreichende und zumutbare Ausweichmöglichkeiten. Selbst wenn Fresenius Kabi jedoch relativ marktmächtig gewesen wäre, hätte gemäss WEKO kein Missbrauch dieser Stellung vorgelegen, da die ausländischen Konditionen höchstens geringfügig besser waren und die Galexis AG somit nicht ausgebeutet worden wäre.
Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 13. Dezember 2023
Am 13. Dezember 2023 urteilte das Kantonsgericht Basel-Landschaft über die von der A. GmbH beantragten vorsorglichen Massnahmen gegen die B. GmbH mit Sitz in Deutschland wegen Missbrauchs relativer Marktmacht. Die A. GmbH war seit 27 Jahren als einzige Distributorin der B. GmbH-Produkte in der Schweiz tätig und bezog im Jahr 2022 im Verhältnis zu ihrem Gesamtumsatz einen Warenanteil von rund 90% von der B. GmbH. Die A. GmbH behauptete, dass die B. GmbH ihre relative Marktmacht missbraucht habe, indem sie die langjährigen Partnerkonditionen mit einer Frist von nur sechs Monaten kündigte. Dies habe die Existenz der A. GmbH bedroht, da sie nicht in der Lage gewesen sei, sich innerhalb dieser Frist neu zu organisieren.
Das Kantonsgericht kam zum Schluss, dass die A. GmbH nicht hinreichend glaubhaft machen konnte, dass ihr durch die Kündigung der Partnerkonditionen ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil drohe. Die behaupteten Preiserhöhungen und das Insolvenzrisiko wurden nicht ausreichend belegt. Auch das Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen den beiden Parteien wurde von der A. GmbH nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Die alleinige Behauptung des Vorliegens einer sortimentsbezogenen oder unternehmensbedingten Abhängigkeit genügte nicht. Doch selbst wenn eine Abhängigkeit bestanden hätte, wäre diese durch unternehmerische Fehlentscheidungen der A. GmbH selbst verschuldet gewesen. Die A. GmbH hätte rechtzeitig Massnahmen zur Diversifizierung ihrer Lieferanten und zur vertraglichen Absicherung treffen müssen.
Konsequenzen für Unternehmen
Der Entscheid der WEKO i.S. französischsprachige Bücher hat insbesondere Konsequenzen für international tätige Unternehmen. Diese sollten die Abhängigkeit ihrer jeweiligen Schweizer Vertragspartner prüfen, wobei diese Prüfung in jedem Einzelfall vorgenommen werden muss. Im Unterschied zur Beurteilung der Marktbeherrschung bestimmt sich die relative Marktmacht nämlich nicht anhand der Eigenschaften des betroffenen Unternehmens, sondern der Beziehungen zu den einzelnen Vertragspartnern.
Liegt relative Marktmacht vor, so muss das entsprechende Unternehmen geeignete Schritte vorsehen, um Missbräuche zu verhindern. Beispielsweise muss sichergestellt werden, dass Lieferanfragen aus der Schweiz nicht abgelehnt werden. Preiserhöhungen mit Bezug auf die Schweiz sind zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, müssen aber mit Blick auf den WEKO-Entscheid i.S. französischsprachige Bücher mit spezifischen Mehrkosten überzeugend nachgewiesen werden.
Im Allgemeinen hat ein relativ marktmächtiges Unternehmen sein Verhalten am Missbrauchsregime von Art. 7 des Kartellgesetzes zu orientieren. Insbesondere müssen abhängige Unternehmen in Bezug auf Preise, Rabatte und sonstige Geschäftsbedingungen grundsätzlich gleich behandelt werden. Zudem müssen relativ marktmächtige Unternehmen möglicherweise Vertragskündigungen oder die Vereinbarung von Exklusivitäten aus sachlichen Gründen rechtfertigen können.
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